Archiv: Rezensionen zu Literatur und Film

Dienstag, 20. Juni 2017

Inside: Fuminori Nakamura - Der Dieb



Inside: Eine Zusammenfassung und Analyse zu "Der Dieb"
Auf Deutsch erschienen bei Diogenes.
Erschienen: 2009 in Japan. Übersetzung: Thomas Eggenberg




Über drei Jahre ist es mittlerweile her, wo ich mir vornahm, intensiver über ausgewählte Bücher zu schreiben. Damals war es Sputnik Sweetheart, ein kurzer Roman von Haruki Murakami, dem ich mich näher annahm und ein wenig ins Seelenleben dieser Geschichte blickte. Banana Yoshimoto mit "Ihre Nacht" sollte folgen, aufgrund von Zeitmangel und geringer Relevanz der Leser begrub ich aber weitere Pläne, die Rubrik fortzuführen.

Nun gab es aber erneut einen relativ kurzen Roman, der mich sehr begeistert hat. "Der Dieb", von Japans noch jungem Schriftsteller Fuminori Nakamura, beinhaltet alle Elemente, die dazu einladen, intensiver über das Buch zu diskutieren. Meine Besprechung zum Taschenbuch verfasste ich bereits ende April und kann hier eingesehen werden: Rezension

"Der Dieb" ist ein furioser Ritt. Das Buch ist mit etwas über 200 Seiten recht schlank (bei vielen japanischen Autoren ist dies meistens bereits die Standardlänge eines Romans), dennoch passiert auf jeder Seite etwas. Das besondere an dem Buch ist, es fühlt sich an, als würde man das Drehbuch zu einem Spielfilm lesen. Die Geschichte um einen Taschendieb, der immer tiefer in die japanische Unterwelt gerät, ist rasant erzählt, wirkt aber nie gehetzt. Auch wenn ich mir am Ende wünschte, der Roman hätte noch 20-30 Seiten mehr geboten, so bin ich mit dem Ausgang der Geschichte sehr zufrieden. Anders als bei einem Drehbuch gibt es hier aber dennoch die nötige Zeit, um sich in die Charaktere hineinversetzen zu können. Bei einem Drehbuch ist es meistens schwer, einen Bezug zu den Figuren aufzubauen und wird deshalb durch die Umsetzung als Film dann meistens kompensiert.

Da ich in dieser Analyse auf wichtige Einzelheiten im Buch eingehe und gleichzeitig auch über das Ende diskutiere, folgt an dieser Stelle nicht nur eine Spoiler-Warnung, wer nicht direkt auf den Link zu diesem Eintrag klickt, der wird, sollte er über die Startseite meinen Blog besuchen, den kompletten Text erst sehen, sobald er den Eintrag anklickt. Für die Leute, die direkt über eine Verlinkung einsteigen, vielleicht noch vorhaben, das Buch zu lesen, so wird die gestrichelte Linie den Abschnitt zu der eigentlichen Analyse nun trennen.

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Fuminori Nakamura ist ein Autor, auf den ich in der Buchhandlung relativ zufällig gestoßen bin. Mit 39 Jahren ist Nakamura in seiner Heimat unlängst eine Größe. In den USA werden seine Werke bereits seit einigen Jahren übersetzt, ein Trend, der hoffentlich auch bei deutschen Verlagen Anklang finden wird (idealerweise Diogenes, die bei der Veröffentlichung sehr gute Arbeit geleistet haben). Besonders die Kürze der Romane dürfte die komplizierte Übersetzung aus der japanischen Sprache ein wenig entspannter gestalten.

Nakamura ist ein Autor, der bereits nach nur wenigen Seiten zum Punkt kommt. Angesiedelt ist sein Stil zwischen Dostojewski, Akutagawa und Capote. Besonders die Nähe zum Stil von Capote wird in Nakamuras Buch "Last Winter, We Parted" deutlich. Sich bei großen Autoren der Weltliteratur etwas abzuschauen kann damit enden, dass der Autor diese weltbekannten Schriftsteller einfach kopiert. Seinen eigenen, unverfälschten Stil zu entwickeln ist eine schwierige Angelegenheit für einen jungen Autor. Nakamura meistert diese Hürde jedoch unglaublich gut. Trotz der vielen Lobpreisungen haben besonders amerikanische Leser das ein oder andere Problem mit den Werken des Autors. Nakamuras Stil gilt als schwer zugänglich (was ich nicht bestätigen kann). Die Geschichten seien zu pessimistisch und wären zu düster. Dabei lässt besonders "Der Dieb" am Ende genug Spielraum, die Geschichte auf mehreren arten zu interpretieren. Mit einem Münzwurf beendet Nakamura den Roman. Ein Münzwurf, der gleichzeitig Pessimismus, aber auch Optimismus bedeuten kann. Es kommt vermutlich auf die eigene Verfassung des Lesers an, wie er das Ende deuten wird. Doch bevor das Ende kommt, gehen wir doch einmal den Anfang und die Mitte des Buches durch.


"In meiner Kindheit war da in der Ferne immer der Turm.
Wenn ich zwischen den ärmlichen Reihenhäuschen und heruntergekommenen Wohnbaracken in die Höhe schaute, konnte ich ihn immer schwach erkennen. Ein im Dunst emporragender Turm mit unscharfen Konturen, eine Erscheinung wie aus einem alten Tagtraum, wie aus einer anderen Zeit. Fremdartig und feierlich, so hoch, dass die Spitze nicht zu sehen war, so weit weg, dass er nicht zu erreichen war, unendlich fern und überwältigend schön." (Zitat: Der Dieb)


Der Dieb, der Protagonist dieser Geschichte, führt den Leser als Ich-Erzähler durch die Geschichte (Tatsächlich bin ich mir gerade nicht mehr sicher, ob man den Namen des des Diebes nicht irgendwann mal erfährt, für diese Analyse werde ich mich bei diesem Charakter aber auf "Der Dieb" beschränken). Der Dieb ist ein noch recht junger Mann, der vom Autor nicht großartig beschrieben wird, was sein Aussehen angeht. Auch die Hintergrundgeschichte der Hauptfigur ist relativ kryptisch gehalten. Der Dieb wuchs ohne Eltern auf, der Hang zum Stehlen prägte sich bereits in seiner Kindheit ein, soziale Kontakte meidet er größtenteils bis auf eine handvoll ausgewählte Menschen, die ihm wichtig waren. Diese kühle Beschreibung bedeutet aber nicht, dass der Dieb keine Persönlichkeit hat oder eiskalt wie eine Maschine agiert. Das Gegenteil ist der Fall. Der Dieb ist ein Mensch, der Mitgefühl besitzt und trotz seines verkorksten Lebens sehr daran hängt. Er möchte nicht sterben, besonders gegen Ende wird seine Einstellung dem Leben gegenüber recht deutlich. Diese Einstellung macht die Figur sehr menschlich und berührte auch mich recht unerwartet.

Immer wieder berichtet der Dieb über einen Turm in der Ferne. Der unerreichbare Turm von unvorstellbarer Schönheit. Der Turm ist selbstverständlich eine Metapher im Leben des Diebes. Sein Lebensweg ist eng mit diesem mysteriösen Turm verknüpft. In seiner Kindheit schien er über den Dieb zu wachen, entfernte sich aber immer weiter von dem Jungen, als dieser mit dem Stehlen anfing. Der Diebstahl ist für ihn ein Kick. Mehrmals beschreibt der Dieb seine Gefühle, wenn er seine Hand geschickt in die Hosentaschen fremder Menschen steckt. Ein gefährlicher Nervenkitzel, aber noch besser ist das Gefühl, wenn der Dieb seine Beute erwischt. Der Titel lässt anderes vermuten, aber hier hat man es mit einem Taschendieb zu tun (was die Straftat nicht mildert, aber es gibt ja schließlich viele arten von Dieben). Der Diebstahl ist unlängst zur Passion des Hauptcharakters geworden, eine Passion, die ihn sein ganzes Leben in immer tiefere Abgründe stürzte. Freunde und Liebschaften gab es in seinem Leben nur selten. Immer wieder berichtet er über eine Frau namens Saeko, zu der er sich sehr verbunden fühlte. Eine verheiratete Frau, eine psychisch labile Frau, die dem Tod näher als dem Leben stand. Ishikawa (auch Niimi genannt), ebenfalls ein geschickter Dieb, ist die Person, die einem Freund des Diebes am nächsten kommt. Doch Ishikawa ist mehr als nur ein Freund, er ist auch der Mentor des Diebes und eine Plaudertasche. Ishikawa ist, so gesehen, nicht nur Freund und Mentor, er ist auch gleichzeitig das Verhängnis des Diebes.

Ishikawa hat sich auf gefährliche Leute eingelassen. Die Yakuza scheint es nicht zu sein, aber es scheinen Leute zu sein, die sogar noch kaltblütiger sind. Anführer dieser Leute ist ein gewisser Kizaki. Ein Furcht einflößender, zwielichtiger Typ. Dieser Kizaki, er trägt ständig eine Sonnenbrille, in so ziemlicher jeder Lebenslage. Eine Person, die man nicht lesen kann und dessen wahre Absichten ein Rätsel bleiben. Dennoch scheint er eine menge Einfluss zu besitzen. Kizaki, so sagt er es selbst, schreibt die Drehbücher für die Leute, die für ihn arbeiten. Er hat große Freude daran, die Schicksale der Menschen zu bestimmen, die seine gefährlichen Jobs ausführen. Ein Mann, der über Leichen geht, um an sein Ziel zu kommen. Ishikawa muss einen letzten Job für Kizaki erledigen, und Kizaki will nicht nur Ishikawa dabei haben, sondern auch den noch ahnungslosen Dieb, auf den er bereits seit längerer Zeit ein Auge geworfen hat.


"Lag das Schicksal des Jünglings wirklich in den Händen des Adligen? Oder war ein Leben, das in den Händen des Adligen lag, sein Schicksal?" (Zitat: Kizaki)


Der Dieb willigte ein als Ishikawa ihn fragte, ob er bei einem Raubüberfall, den Kizaki geplant hat, dabei sein will. Eine große Auswahl hatte er sowieso nicht, da Kizaki eine Absage nicht akzeptiert hätte. Der Leser kann es sich vermutlich denken, aber nach diesem Raubüberfall geht das Glück des Diebes den Bach unter. Ishikawa verschwindet spurlos und der Dieb verlässt nach getaner Arbeit Tokyo. Die Geschichte könnte hier eigentlich enden. Der Dieb lässt Tokyo hinter sich und baut sich ein neues Leben auf. Kizaki, für den seine Mitarbeiter nur Spielfiguren sind, entlohnte den Dieb und ließ ihn und einen weiteren Kumpanen (Tachibana), leben. Aber einfach unterzutauchen ist nicht sein Naturell. Einige Zeit später kehrt er ins kalte Tokyo zurück, will nach Hinweisen suchen, was aus Ishikawa geworden wurde. Zuletzt sah er ihn mit Kizakis Männern nach dem Raubüberfall davonfahren. Tief im Innern wusste der Dieb, dies war Ishikawas letzter großer Job. Ein Job, der vermutlich damit endete, dass Ishikawa ausgeschaltet wird.

Der Leser hingegen kann nur ahnen, wie es weitergeht. Und es kommen erste Gedanken, ob nicht alle handelnden Personen nach Kizakis Drehbuch agieren. Eine Spannung, die von Seite 1 an aufgebaut wird, droht sich am Ende zu entladen. Dies ist eine Spannung, die der Leser spürt. Er ist genau so in Ungewissheit getränkt wie der Dieb. Jeder weitere Schritt könnte der Schritt ins endgültige Verderben sein. Als der Dieb bei einem abendlichen Spaziergang im Laden einen stehlenden Jungen und seine heruntergekommene Mutter kennen lernt, marschiert er geradewegs in seinen eigenen Untergang hinein. Die Beweggründe, wieso sich der Dieb der Frau und ihrem Kind annimmt, werden nicht vollständig deutlich. Die Frau erinnert ihn an Saeko und der Junge erinnert ihn vermutlich an sich selbst, vielleicht hatte er mit den beiden aber auch einfach nur Mitleid. Die unmögliche Mutter, die sich auf Wunsch ihres Lovers prostituieren lässt, zulässt, dass dieser Mann im betrunkenen Zustand ihr Kind verprügelt und sie ihren eigenen Sohn zum Ladendiebstahl anstiftet, ist ein drastischer Charakter. Sämtliche Versuche, Mitleid mit dieser von Geld angetriebenen Frau zu finden, scheitern. Durch mehrere Begegnungen und durch persönliches Interesse freundet sich der Dieb mit dem kleinen Jungen an, der ihn immer wieder darum bittet, ihn in die Geschicke des Diebstahls einzuweihen.

Das Verhältnis zwischen dem Dieb und dem Kind nimmt dabei keine klischeehaften Wendungen. Weder sucht der Junge einen Vaterersatz, noch entwickelt der Dieb väterliche Gefühle für das Kind. Und dennoch entwickelt sich eine besondere Beziehung zwischen den beiden. Der Dieb will mit aller Macht verhindern, dass der Junge den gleichen Werdegang wie er selbst einschlägt und sein Leben wegwirft. Am Ende überreicht der Dieb dem Jungen eine Schatulle, die er öffnen soll, wenn es ihm einmal sehr schlecht geht. Da der Dieb dem Jungen sehr oft und dabei auch sehr viel Geld zugesteckt hatte, kann man davon ausgehen, dass es sich nicht um Geld bei dem Inhalt handeln wird. Der tatsächliche Inhalt dieser Schatulle wird dem Leser jedoch verborgen bleiben.

Als der Dieb gemeinsam mit dem Jungen Shinjuku besucht und ihm dort neue Kleidung kaufen will, kommt es zu einem fatalen Wiedersehen. Als der Junge ins Taxi steigt um nach Hause zu fahren, geht der Dieb noch einmal auf Beutezug. Ins Visier fasste er einen Mann, der einen gehobenen Eindruck macht und wohlhabend aussieht. Der Dieb erwischt seine Beute, und in dem Moment, wo sich ein wohliges Gefühl in ihm ausbreitet, greift eine Hand zurück. Es ist die Hand des Mannes, den er nie wiedersehen wollte. Kizaki.

Das Wiedersehen mit Kizaki wird auch beim Leser ein ungutes Gefühl auslösen. Er ist noch unberechenbarer und gefährlicher als bei ihrem ersten Treffen, wo er einfach den Eindruck eines brutalen Schlägers erweckte. Kizaki führt den Dieb in seine persönliche "Hölle", wie es Kizaki nennt. Ein Untergrund-Club, wo wilde Orgien gefeiert und Drogen regelrecht vernichtet werden. Wie konnte sich der Dieb nur diesen Fehler erlauben? Er ist in die Falle des Mannes getappt, vor dem er geflohen ist. Er weiß, dass es aus den Fängen dieses Mannes kein Entkommen gibt. Die Frage, die man sich stellt, hat Kizaki dieses schicksalhafte Wiedersehen genau so geplant? Wusste er, dass der Dieb der Versuchung, nach Tokyo zurückzukehren, nicht würde widerstehen können? Kizaki, sichtlich angetrunken, erzählt dem Dieb, der verkrampft Platz genommen hat, eine absurde, aber ungeheuerlich wichtige Geschichte. Die Geschichte eines französischen Adligen, der, einfach aus Spaß und Langeweile, das Leben eines 13 jährigen Sklaven vorherbestimmt. Ein perfektes Drehbuch, welches mit dem Tod des Jungen und der Befriedigung des Adligen enden wird. Kizaki, enorm fasziniert von der Geschichte, die ihm selbst nur ein betrunkener Untergebener vor langer Zeit erzählte, bezieht die Geschehnisse auf sich selbst. Er ist der Mann, der die Menschen kontrolliert und ihr Weiterleben und ihr Ende bestimmt. Größenwahnsinnig und fernab der Realität, entwickelt sich der unberechenbare Kizaki zum ultimativen Antagonist der Geschichte. Der Dieb ist angewidert von den Vorstellungen und Werten dieses Mannes, doch weiß er, mit welch einer gefährlichen Person er es hier zu tun hat. Nakamura überträgt die Antipathien des Diebes auf die Leser. Diese wünschen sich natürlich ein versöhnliches Ende für den Dieb. Kizakis Irrsinn wird aufgehalten, der Dieb und die Prostituierte mit ihrem Kind gründen eine Familie. Doch diese Traumvorstellung scheint hoffnungslos, sobald Kizaki dem Dieb 3 Aufgaben übermittelt, die er für ihn erledigen soll. Unmögliche Aufgaben, zu denen unverschämtes Glück notwendig ist, sie zu erfüllen. Kizaki gesteht dem Dieb nicht nur, dass seine Männer nach dem Raubüberfall damals Ishikawa ausgeschaltet haben, auch erfährt der Dieb, dass Ishikawa alles daran setzte, ihn zu schützen. Nun sei der Dieb dran, Leute zu schützen, die ihm was bedeuten. Erfüllt er die Aufträge nicht, werde nicht nur er ausgeschaltet, sondern auch die Mutter und ihr Kind. Flieht der Dieb feige, sterben die Mutter und ihr Kind. Erfüllt er einen Teil der Aufträge, verschone er zumindest die beiden. Die berühmte Wahl zwischen Pech und Schwefel.


">>Das heißt, ich werde auch verschwinden?<<
>>Mann, hast du's noch nicht kapiert?! Dass ich dich leben lassen will? du kannst mir nützlich sein und mich zugleich ein wenig unterhalten... Er wusste leider zu viel. Das hat er dir vielleicht nicht gesagt. Ich hab ihn noch bei dem Raub mithelfen lassen, und das war's dann.<<
Mein Körper erschlaffte. Einen Moment lang wusste ich nicht mehr, wo ich hinschauen sollte. Verborgen von der Sonnenbrille schien mich Kizakis Blick zu durchbohren." (Zitat: Der Dieb und Kizaki)



Ein verhängnisvoller Showdown, ein grüner Umschlag und Dosenkaffee



Der Dieb schafft es, zwei der drei beinahe unmöglichen Aufgaben (auf die ich hier nicht genau eingehen werden, da sie nichts zur Analyse beitragen und deren Bedeutungen im Buch sowieso nicht aufgeklärt werden) zu meistern. Die Dritte Aufgabe, einen unberechenbaren, heruntergekommenen Mann namens Yonezawa einen grünen Umschlag zu entwenden und mit einer Fälschung auszutauschen, gelingt dem Dieb nicht auf Anhieb. Yonezawa ist paranoid und trägt eine Waffe mit sich herum. Warum dieser Mann mit Kizaki involviert ist, was sich in dem Umschlag befindet und wieso Yonezawa um sein Leben fürchtet, bleibt ein Rätsel. Fest steht aber, von den drei Leuten, denen der Dieb etwas für Kizaki entwenden muss, ist er der gefährlichste. Das Objekt der Begierde befindet sich eingenäht in Yonezawas Mantel. Selbst für einen Dieb mit dem Kaliber des Protagonisten stellt dies ein nahezu unmögliches Unterfangen dar. Unmissverständlich macht ihm Kizaki bei einem Telefonanruf klar, dass er keinerlei Hilfe von ihm erhalten wird und sich auf sein Ende einrichten soll. Wie versprochen, verschone er aber Mutter und Kind.

Der Dieb verfällt in Melancholie, wandert durch die kalten und durchnässten Straßen der Tokioter Innenstadt. In Taxis findet er Schutz und Geborgenheit, in einer heruntergekommenen Bar betrinkt er sich und sinniert noch einmal über sein Leben. Er will nicht sterben. Sein Leben war nicht berauschend, aber, so hat er das Gefühl, er möchte unbedingt noch etwas "dabeibleiben". Dabeibleiben in der Welt der Lebenden. Vielleicht ja doch noch einmal neu anfangen? Vielleicht ja doch ein Leben mit der Mutter und ihrem Kind aufbauen... doch das sind Gedanken, an die uns der Dieb nicht teilhaben lässt. Er ist lediglich entschlossen, über die nächste Woche hinaus noch am Leben zu sein.

Am Bahnhof von Shinjuku kommt es zum Showdown. Seine letzte Chance, Yonezawa den Umschlag zu entwenden und gegen die Fälschung auszutauschen. In einem Akt des Wahnsinns, des Glücks und Dosenkaffee, gelingt dem Dieb zu seiner eigenen Überraschung das Unterfangen, kann aber eine persönliche Konfrontation mit dem durchgedrehten Yonezawa nicht vermeiden. In letzter Sekunde eilt ein Handlanger von Kizaki zum Ort des Geschehens und Yonezawa flieht, den gefälschten Umschlag fest in seinen Händen. Der Handlanger beglückwünscht den Dieb zur Bewältigung der drei Aufgaben. Kizaki erspare das eine menge Arbeit und es wurde vermieden, Leute zu töten um ans Ziel zu kommen.

Der Dieb traut dem Braten nicht, steigt aber mit dem Handlanger ins Auto, dort sollen sie zu Kizaki kutschiert werden, der am Ende einer dunklen, engen Gasse auf sie wartet. Um Yonezawas Manteltasche aufzuschneiden, hat der Dieb noch immer das gerade gebrauchte Messer in seinen Taschen aufbewahrt. Er spielt mit dem Gedanke, Kizaki damit zu erstechen, ihn für seine Taten büßen zu lassen. Obwohl es Tag ist, wirkt die enge Gasse beklemmend und verhängnisvoll. Zahlreiche Gedanken schwirren dem Dieb durch den Kopf, vor sich sieht er Kizaki. Und auf einmal breitet sich in seiner Bauchgegend ein seltsames Gefühl aus, Ein warmes Gefühl, doch kein warmes Gefühl der Zufriedenheit. Auf einmal tritt Blut aus der Bauchgegend. Noch bevor der Dieb eine Aktion ausführen konnte, handelte Kizaki und langte beherzt mit einem Messer zu. Der Dieb sinkt zu Boden, sein Gegenüber, befriedigt und Siegessicher, erinnert den Dieb an die Geschichte des französischen Adligen. Er bräuchte für seinen Coup eine Leiche, so Kizaki, er bedanke sich für die Kooperation, aber er hatte nie vor, ihn am Ende der unmöglichen Aufträge, sollte unser Dieb die überhaupt meistern, am Leben zu lassen. Kizaki weißt ihn darauf hin, wie unfair das Leben ist und macht noch einmal seinen Status deutlich. In diesem Moment hofft der Leser noch immer auf ein Wunder. Der Dieb wird in seinen letzten Momenten sein Messer ziehen und Kizaki mit in den Tod reißen. Doch so weit kommt es nicht. Erhobenen Hauptes stolziert Kizaki mit seinen Schergen davon. In dieser Gasse wird dich niemand mehr lebend finden, waren Kizakis letzte Worte.

Blutüberströmt versucht sich der Dieb aus dem Todesgriff der engen Gasse zu befreien. Er will nicht sterben, nicht so, nicht hier und nicht durch die Hände Kizakis. Fieberhaft schwirren ihm unrealistische Gedanken durch den Kopf. Aus der Ferne jedoch hört er belebte Stimmen, Stimmen von Frauen. Sie scheinen nicht weit weg zu sein. Ein letzter Griff in seine Tasche offenbart eine Münze. Wem er die mal gestohlen hat, wusste er nicht mehr und es spielte auch keine Rolle. Eine Münze, die er mit letzter Kraft werfen wird, um auf sich aufmerksam zu machen. Mit dieser letzten Handlung endet die Geschichte.

An eine Fortsetzung ist nicht zu denken. Diese kann man sich natürlich selbst zusammenspinnen. Das eigentlich unvermeidbare Schicksal des Diebes bleibt dennoch offen. Ein Münzwurf wird den endgültigen Ausgang seiner Geschichte entscheiden. An den Ausgang dieses Münzwurfs wird der Leser jedoch nicht mehr teilhaben. Pessimismus trifft Optimismus. Hoffnungslosigkeit trifft auf Hoffnung. Kann der Dieb Kizakis tödlichem Drehbuch entkommen? Wird er seine eigene Geschichte schreiben und Kizakis Übermut durchkreuzen? So reizvoll eine Fortsetzung auch wäre, sie wäre eigentlich komplett unnötig und würde das Original beeinflussen.

Interessant sind hier einige Parallelen zur Verfilmung von "Drive" von Nicolas Winding Refn. Der Dieb und der Fahrer (Ryan Gosling) teilen eine menge Gemeinsamkeiten (düstere Vergangenheit, die Begegnung mit einer Mutter und ihrem Kind und ein offenes Schicksal). Zwar besitzt Drive eine literarische Fortsetzung von Autor James Sallies, aber aus filmischer Sicht ist die Geschichte abgeschlossen. Für Leser und Zuschauer in diesen beiden Fällen ist es nicht weiter relevant, was aus dem Dieb und dem Fahrer aus Drive wird. Ihre Geschichten sind erzählt und sie enden nicht wirklich vorteilhaft für sie. Sie hatten aber eine Sache, für die sie ihr Leben riskierten. Entweder überleben sie, oder eben nicht. In Drive passiert jedoch genau das, worauf auch der Leser in "Der Dieb" wartete. Der Böse wird ausgeschaltet und Protagonist und Zuschauer wird Genugtuung getan. Dieser Aspekt bleibt in Nakamuras Roman komplett aus. Der angestaute Hass des Leser auf Kizaki wird nicht gestillt. Selbstsicher, überheblich und bedrohlich stolziert das Alphatier ab und überlässt den Dieb seinem Schicksal.

Fuminori Nakamura hielt sich in seinem Roman nie mit Belanglosigkeiten auf. Alles ist genau da, wo es hingehört. Ob ich die hohe Meinung des Autors behalten werde, wird es hier bald auf "Am Meer ist es wärmer" zu lesen geben, denn aktuell sitze ich tatsächlich an den vorhin erwähnten Roman "Last Winter, We Parted", der bereits 2014, nur 1 Jahr nach der japanischen Veröffentlichung, ins Englische übersetzt wurde.


(Der Autor: Fuminori Nakamura. Quelle: Soho Press)




Kollage: Joe Odagiri (Oben), Gen Urobuchi (Links), Koji Yakusho (Rechts)

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